Spiegelbild
Ein Wanderer kam an ein Stadttor. Vor dem Stadttor stand eine Bank, auf der ein alter Mann saß. Sie kamen miteinander ins Gespräch. Da kam ein Mann des Weges und fragte den Alten: „Wie sind die Menschen hier in der Stadt?“ „Wie sind sie da, wo du herkommst?“, fragte der Alte zurück. „Sie sind böse, betrügen einander, gönnen sich gegenseitig nichts Gutes!“ „So sind sie auch hier!“, erwiderte ihm der Alte.
Kurze Zeit später kam ein anderer Mann und fragte: „Wie sind die Menschen hier in der Stadt?“ „Wie sind sie da, wo du herkommst?“, fragte der Alte zurück.
„Sie sind freundlich, können lachen und sich freuen, sie helfen und tun einander Gutes.“
„So sind sie auch hier!“, sagte der Alte. Der Wanderer war verdutzt. „Wie kannst du so lügen?“ fragte er. „Dem einen sagst du, sie sind gut, dem anderen, sie sind böse?“
„Das ist keine Lüge,“ sagte der Alte. Die Menschen sind überall gleich. Je nachdem wie du eingestellt bist, was du von ihnen erwartest, das wirst du auch an ihnen wahrnehmen und sehen. Hast du da, wo du herkommst, nur das Böse gesehen, du wirst es hier auch nur sehen, hast du das Gute gesehen, du wirst es auch hier wahrnehmen.“
(Verfasser unbekannt)
Zwei mit Namen Pierre
Er heißt Pierre und ist fünfzehn Jahre alt. Wir hatten ihn in einer Hütte des tiefen afrikanischen Busches entdeckt.
Man hat ihn aus seinem Gymnasium herausgerissen, um ihn dorthin zu verbannen. Sein Verbrechen: die Leprakrankheit.
Das Urteil: Aussätziger in alle Ewigkeit.
Ich sehe ihn noch vor mir stehen: den Kopf stur zu Boden geneigt, die Augen fliehend, das Aussehen eines kleinen, gehetzten Tieres, und in seiner Verzweiflung hatte er das Sprechen fast gänzlich verlernt. Man muss das wohl erlebt haben, um es glauben zu können. Erst nachdem wir lange, lange gütig mit ihm gesprochen hatten, konnten wir ihn umarmen, und erst dann erhellte ein schüchternes Lächeln die furchtbare Nacht seines kleinen Gesichtchens.
Einige Wochen später schrieb er mir: „Sie sind sehr gut zu mir gewesen, indem sie den Entschluss fassten, mich als ihren Sohn anzunehmen. Wenn es Ihnen doch gelingen würde, mich an einen guten Ort zu bringen, wo ich ohne allzu große Hindernisse meine Studien fortsetzen könnte!
All meine Gedanken kreisen um dieses Problem, und all meine Träume beschäftigen sich mit Ihnen. Dank ihrer Güte jubelt meine Seele.“
Er heißt Pierre, ist fünfzehn Jahre alt. Er aber, Gott sei es gedankt, ist gesund und wohnt in Paris.
In unserem Mitteilungsblatt hatte er die Geschichte von dem kleinen, unbekannten und so unglücklichen Kameraden gelesen. Und er sehnte sich danach, etwas für ihn tun zu können… Aber seine Eltern waren selbst sehr arm… Da machte er sich an einem Sonntag auf und fuhr mit gleichaltrigen Kameraden aufs Land hinaus, und sie durchstreiften Felder und Wiesen. Er pflückte den ganzen Nachmittag Blumen. Und abends stellte er sich an den Straßenrand und verkaufte sie… für seinen kleinen Aussätzigen. So hat er zweihundert Franken erlöst. Aber er fand, dass das noch zu wenig sei. Er wagte nicht, sie mir zu übersenden. Ein Freund besorgte das. Und das ist die Geschichte…
Er heißt Pierre, ist fünfzehn Jahre alt. Und er weiß nicht einmal, dass er eine rührende und zugleich auch eine wichtige Tat vollbrachte. Weil er Zeugnis dafür ablegte, dass es weder die Macht noch das Geld ist, die siegen werden, sondern einzig und allein die Liebe, ohne die nichts möglich ist. Und unser edelster Sieg ist dieser kleine Kranke in einem verlorenen Lager des afrikanischen Busches, der glückselig ist, weil ein anderes Kind an einem Sonntagabend auf einer Straße Frankreichs uns Blumen anbot…
(Quellenangabe: „Echo aus Afrika“ Missionszeitschrift der Petrus Claver Schwestern)